Berentung aufgrund transitiver oder leichter Störungsbilder (BaltS)

Förderung
Deutsche Rentenversicherung Westfalen

Projektteam
Judith A. Bahmer

Laufzeit
1. Januar 2013 bis 30. September 2013

Hintergrund und Zielsetzung
In einem vorauslaufenden Projekt zur Situation abgelehnter Rentenantragsteller (ARentA) wurde beobachtet, dass in den Rentenzugangsstatistiken auch Erwerbsminderungsrenten mit der ICD-Ziffer F32.0 erfasst waren. Diese steht für eine leichte depressive Episode, die per Definition nicht mit gravierenden Einbußen in der Alltags- und Arbeitsbewältigung einhergeht und als transitiv und behandlungsfähig eingeschätzt wird. Es wird überprüft, ob es tatsächlich häufig zu Berentungen aufgrund leichter oder vorübergehender Störungen kommt, oder ob andere Ursachen wie z.B. die statistische Erfassung der Diagnosen zu diesem Eindruck führen. (So ist z. B. nur die Erfassung der ersten Berentungsdiagnose obligatorisch, d. h. Ko- oder Multimorbidität wird nicht sicher abgebildet und es müssen nur die ersten 3 Stellen der 4-stelligen ICD-Kodierung erfasst werden.) Neben Berentungsfällen aufgrund von Depressionen werden auch Berentungen aufgrund von Anpassungsstörungen unter diesen Gesichtspunkten systematisch ausgewertet. Auch Anpassungsstörungen sind per Definition zeitlich begrenzte Störungen.

Methoden
Es wird eine 33%-Stichprobe der Versichertenakten von zeitlich befristeten EM-Rentenneuzugängen des Jahres 2011 mit folgenden Berentungsdiagnosen untersucht:

•    F32.0 (=leichte Depression)
•    F32    (= Depression ohne Verschlüsselung des Schweregrades)
•    F43.2 (=Anpassungsstörung).

Die Aktenanalyse erfolgt anhand eines Fragenkatalogs, die Auswertung mittels deskriptiver Statistiken.

Ergebnisse
85 Versichertenakten mit Berentungsdiagnose „Depression“ und 27 Versichertenakten mit Berentungsdiagnose „Anpassungsstörung wurden ausgewertet.

Depression:
In allen Fällen wurde in der sozialmedizinischen Entscheidungsvorlage lediglich F32 ohne wei-terführende 4. Stelle kodiert. Statistisch wurden 8 dieser Fälle jedoch mit F32.0 erfasst (= leichte depressive Episode). Die Ergänzung der 4. Stelle erfolgte somit fälschlicherweise im Rahmen der Datenerfassung. In allen 85 Fällen wurden in den Verwaltungsakten mittel-schwere bis schwere depressive Episoden beschrieben, zum Teil war der Schweregrad in der Entscheidungsvorlage textlich beschrieben nicht aber ICD-kodiert. In 80 % der Fälle gab es Hinweise auf Komorbiditäten (psychisch, somatisch, psychische + somatische).

Anpassungsstörungen:
Die statistisch kodierte Diagnose entsprach nicht der Schwere und Chronizität der Beschwer-den der Versicherten. Es handelte sich mehrheitlich um bereits langjährig erkrankte Versi-cherte, die immer wieder durch schwer belastende Lebensereignisse und psychische Trau-mata in ihrer psychischen Funktionsfähigkeit massiv eingeschränkt wurden. Ausmaß und Dauer der Störungen überschritten den Geltungskreis der zu Beginn der Erkrankung zunächst angemessenen Diagnose der Anpassungsstörung. In den Entscheidungsvorlagen wurde dies in der freitextlichen Beschreibungen auch überwiegend deutlich (z. B. "im Sinne einer schwe-ren depressiven Symptomatik"). Häufig war auch eine weitere psychische Störung aufge-führt.

Zusammenfassung und praktische Implikationen
Der Verdacht einer Häufung leichter oder transitiver Störungsbilder als Berentungsursache konnte nicht bestätigt werden. Zur besseren Abbildung der Schwere der Funktionsbeeinträch-tigungen in den Berentungsstatistiken erscheint eine Veränderung der Dokumentationspflich-ten sinnvoll: Die 4. Stelle der ICD-Diagnose sollte immer erfasst werden. Außerdem sollten verpflichtend 3 Diagnosen erfasst werden, wenn diese berentungsrelevant sind. Alternativ kann die Neuaufnahme eines Merkmals zur Multimorbidität diskutiert werden.

Die Diagnose der ,,Anpassungsstörung" sollte als Begründung einer Erwerbsminderungsrente sehr kritisch geprüft und möglichst vermieden werden. Es erscheint sinnvoller die langfristigen Folgen einer vielleicht anfänglich bestehenden Anpassungsstörung wie z. B. Depressionen, Ängste, Somatisierungsstörungen und evtl. zugrunde liegende Persönlichkeitsstörungen diag-nostisch abzubilden.