Berufsorientierte Intervention für onkologische RehabilitandInnen (BIOR): Konzeption und Evaluation einer berufsorientierten Intervention in der onkologischen Rehabilitation

Förderung
Deutsche Rentenversicherung Westfalen

Projektteam
Heike Kähnert, Anne-Kathrin Exner, Simone Brand, Birgit Leibbrand

Laufzeit des Projektes
01.01.2013 - 31.12.2014

Kurzbeschreibung
Hintergrund und Ziele

Eine Kernaufgabe der medizinischen Rehabilitation ist die Wiederherstellung der Leistungsfä-higkeit erwerbsfähiger PatientInnen, um die berufliche Teilhabe zu ermöglichen. Die berufliche Wiedereingliederung onkologischer PatientInnen stand allerdings viele Jahre lang im Hin-tergrund therapeutischer Bemühungen, bedingt durch das Alter der Betroffenen, einer schlechten Prognose und einer Vielzahl therapiebedingter Nebenwirkungen (Heim 2008). Aktuell wächst in Deutschland die Zahl der Langzeitüberlebenden deutlich. Von den Krebsneuerkrankungen 2012 sind etwa 36% bereits im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren betroffen (GEKID 2012). Für onkologische PatientInnen gelten die Wiederherstellung ihrer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit, ein guter Gesundheitszustand, eine ange-messene Krankheitsbewältigung sowie eine realistische Einschätzung der eigenen berufsbezogenen Kompetenzen als wesentliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Rückkehr in das Erwerbsleben (Mehnert und Koch 2013). Multimodale Schulungsmodule sollten somit integrale Bestandteile einer Rehabilitation sein (Boer et al. 2011). Derzeit existieren wenige Studien über die Entwicklung, Inhalte, Bewertung und Auswirkungen berufsorientierter Schulungsmodule in der onkologischen Rehabilitation (Driesel et al. 2014).
Das Hauptziel der Studie war die Entwicklung des MBOR-Schulungsmoduls Perspektive Job für die onkologische Rehabilitation durch das Reha-Team. Weitere Ziele waren die Überprüfung des Entwicklungsprozesses, die Evaluation des Schulungsmoduls (Pilotstudie) sowie die Umsetzung und Überprüfung einer telefonbasierten Nachsorge.

Methoden
Mit Hilfe eines Mixed Methods Ansatzes wurden qualitative und quantitative Daten von den beteiligten AkteurInnen erhoben: (1) Experteninterviews mit dem Ziel den Entwicklungspro-zess und das MBOR-Schulungsmodul aus Sicht der KlinikmitarbeiterInnen bewerten zu las-sen und Verbesserungsvorschläge herauszuarbeiten, (2) Gruppeninterviews vor (Kontroll-gruppe=KG) und nach (Interventionsgruppe=IG) Einführung des MBOR-Moduls mit dem Ziel vergleichende Informationen zur Bewertung beruflich-orientierter Therapien der Klinik aus Sicht der RehabilitandInnen zu erhalten, (3) Patientenbefragungen (Pilotstudie) vor (KG) und nach (IG) Einführung des MBOR-Moduls zu vier Messzeitpunkten (Beginn und Ende der Re-habilitation, 3- und 6-Monatskatamnese) mit dem Ziel erste Aussagen zu den Auswirkungen von Perspektive Job zu treffen und (4) Telefonbasierte Nachsorge mit dem Ziel Informatio-nen zum beruflichen Wiedereingliederungsprozess und zu den erforderlichen Unterstützungs-bedarfen zu erhalten und sofern notwendig, PatientInnen in ihrem beruflichen Eingliederungs-prozess zu unterstützen.

Ergebnisse
Das Hauptziel, die Entwicklung eines bedarfsorientierten MBOR-Modul für onkologische Re-habilitandInnen, konnte erreicht werden. Das Modul Perspektive Job beinhaltet beruflich ori-entierte Basis- und Kernangebote für die Bereiche Sozialberatung, Sport-/Physiotherapie, Ergotherapie, Psychologie und Ernährungsberatung, die weitgehend in geschlossenen Grup-pen stattfanden und Arbeitsplatztrainings für Büro- und Reinigungskräfte. Zudem werden be-darfsorientiert Einzelberatungen (Sozialberatung und Psychologie) angeboten. Im Rahmen der wöchentlichen Teamvisiten werden die beruflichen Belange und die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung der PatientInnen erörtert.

Fortlaufende Teamsitzungen, eine multiprofessionelle Teamarbeit, das Einbeziehen techni-scher Medien (Intranet) als Kommunikationsplattform und die Durchführung einer Erprobungsphase waren wesentliche Erfolgsfaktoren für die Konzeption und Umsetzung von Per-spektive Job. Die MBOR Therapieangebote und Abläufe konnten in das Gesamtkonzept der Klinik gewinnbringend integriert werden.

Die KlinikmitarbeiterInnen bewerteten den Entwicklungsprozess von Perspektive Job als zielorientiert und positiv, trotz des erhöhten Arbeitsaufwandes. Das Arbeiten an dem gemeinsamen Ziel MBOR unterstützte die Teamentwicklung und festigte eine kooperative sowie wert-schätzende Zusammenarbeit. Das Wissen, die Kommunikation wie auch die Arbeitszufrie-denheit der TeammitgliederInnen konnten auf diese Weise gefördert werden.

Das MBOR-Modul ließ sich in den Versorgungsprozess gut integrieren und berufsorientierte Inhalte wurden durchgängig von allen Therapeutengruppen thematisiert. Dies kann als gelun-gen gewertet werden, denn nach Einführung von Perspektive Job nahmen die Rehabilitan-dInnen (Interventionsgruppe) eine berufsorientierte Ausrichtung der Rehabilitation erst wahr. Die Forderungen der Kontrollgruppe nach einem stärkeren Berufsbezug der Rehabilitation und nach einem besseren berufsbezogenen Erfahrungsaustausch zwischen den Rehabilitan-dInnen und mit den MitarbeiterInnen konnte durch Perspektive Job verwirklicht werden. Die berufsorientierten Angebote von Perspektive Job wurden von der Interventionsgruppe insge-samt positiv bewertet, die Inhalte für den Berufsalltag als praxisnah beschrieben und das Auf-zeigen von Wegen zum beruflichen Wiedereinstieg positiv hervorgehoben.

Das Ziel erste Aussagen und Trends zur Wirksamkeit des neu entwickelten und erstmalig implementierten Schulungsmoduls Perspektive Job zu erhalten, konnte durch die Pilotstudie erreicht werden. Hinsichtlich der Bewertung der berufsbezogenen Therapien ließen sich signi-fikante Effekte zugunsten der Interventionsgruppe nachweisen. Im Vergleich zur Kontroll-gruppe, fühlte sich die Interventionsgruppe signifikant besser auf den Berufsalltag vorbereitet und schätzte ihre berufliche Leistungsfähigkeit und Funktionsfähigkeit im Beruf signifikant besser ein. Im Trend zeichnete sich nach sechs Monaten eine höhere berufliche Rückkehrra-te ab. Keine wesentlichen Veränderungen ließen sich in der subjektiven Prognose der Er-werbstätigkeit und den Dimensionen des AVEMs nachweisen.

Als ergänzende Maßnahmen wurden von den beteiligten AkteurInnen u.a. Gedächtnis-/ Kon-zentrationstraining, Kommunikationstraining (im beruflichen Kontext) und eine Ausweitung der Veranstaltung „Stressbewältigung am Arbeitsplatz“ genannt. Arbeitsplatztrainings für weitere Berufsgruppen (Pflege, körperlich schwer arbeitende Berufe) wären wünschenswert sowie ein Einführungsseminar MBOR. Ferner sollte sich die Therapieplanung mehr an den Bedar-fen der RehabilitandInnen orientieren. Bevor das MBOR-Modul durch solche Angebote erwei-tert wird, sollte eine Bedarfsanalyse durchgeführt werden, um hieraus deren Notwendigkeit abzuleiten, insbesondere bei den zeit- und personalintensiven Arbeitsplatztrainings. Des Wei-teren zeigte sich, dass RehabilitandInnen im Vorfeld unzureichend über Inhalte und Ziele einer (berufsorientierten) Rehabilitation aufgeklärt sind, so dass effektive Kommunikationsstrate-gien entwickelt werden sollten.

Die telefonische Nachsorge wurde vonseiten der TeilnehmerInnen für sehr gut und sinnvoll erachtet. Die Interviewten äußerten, dass sie die Hilfe und Beratung gerne angenommen ha-ben, denn ohne einen solchen Kontakt würden viele Empfehlungen und gute Vorsätze nach der Reha „im Sande verlaufen“.

Nach Klinikentlassung benötigen onkologische PatientInnen für die berufliche Rückkehr um-fassende Informationen und differenzierte Versorgungsleistungen, die langfristig zur Verfügung gestellt werden sollten. Förderfaktoren für die berufliche Rückkehr sind:

  • Physische und psychosoziale Faktoren: Ein guter Gesundheitszustand, eine geringe Be-schwerdelast und eine gute körperliche Leistungsfähigkeit
  • Grad an Informiertheit d.h. umfassende (psychosoziale) Aufklärung und Planung der Wiedereingliederung durch die MitarbeiterInnen der Rehabilitationsklinik. Insbesondere wird die stufenweise Wiedereingliederung als ein geeignetes Instrument für eine erfolgrei-che berufliche Rückkehr beschrieben
  • Unterstützung durch weiterbehandelnde ÄrztInnen, die als HauptansprechpartnerInnen für die Nachsorge gewünscht werden
  • Ein gutes und auf Verständnis basierendes Arbeitsklima
  • Soziale Unterstützung durch Familie und Freunde
  • Wohnortnahe Beratungsstelle.

Handlungsempfehlungen
Aus den Studienergebnissen lassen sich folgende Handlungsempfehlungen für Forschung und Praxis ableiten.

  • Zur Qualitätssicherung sollte das Reha-Team für die Entwicklung und Implementierung von Therapien und Prozessen grundsätzlich mit einbezogen werden. Fachspezifische und methodische Fortbildungen sowie Qualifikationsmaßnahmen zur Teamentwicklung sollten langfristig in den Rehabilitationskliniken integriert und die hierfür notwendigen Rahmenbe-dingungen geschaffen werden.
  • Das MBOR-Modul sollte erweitert werden, indem im Baukastensystem die ergänzenden Maßnahmen zielgruppenorientiert entwickelt und bedarfsorientiert eingesetzt werden (In-dividualisierung statt Standardisierung).
  • Das überarbeitete MBOR-Modul sollte durch eine randomisierte kontrollierte Multicenter-studie mit größeren Fallzahlen überprüft werden. Das Forschungsdesign sollte neben der Effektivität auch ökonomische Analysen mit beinhalten, um Aussagen zur Effizienz und Wirtschaftlichkeit treffen zu können.
  • Nachsorgestrategien sollten ferner überprüft werden, ob sie im Klinikalltag umsetzbar und wirtschaftlich sind, wie beispielsweise ein klinikinterner Nachsorgebeauftragter.
  • Die Integration der weiterbehandelnden ÄrztInnen als Lotsen für die Nachsorge stellt eine vielversprechende Strategie dar und sollte überprüft werden. Dies beinhaltet, die Schnitt-stelle zwischen Rehabilitationsklinik und weiterbehandelnde ÄrztInnen (stationär – ambu-lant) im Detail zu analysieren, Kommunikationsstrategien zu entwickeln und zu implementieren.


Literatur
Boer, A. G. de; Taskila, T.; Tamminga, S. J.; Frings-Dresen, M. Hw; Feuerstein, M. & Ver-beek, J. H. (2011). Interventions to enhance return-to-work for cancer patients. In: Cochrane Database Syst Rev 2, S. CD007569. DOI: 10.1002/14651858.CD007569.pub2.

Driesel, P.; Vogel, H.; Gerlich, C.; Löffler, S.; Lukasczik, M.; Wolf, H.-D. et al. (2014). Patien-tenschulungen mit arbeits- und berufsbezogener Thematik – Ergebnisse einer bundeswei-ten Befragung deutscher Reha-Einrichtungen. In: Rehabilitation 53 (02): 81–86. DOI: 10.1055/s-0033-1349140.

GEKID (2012). Atlas der Krebsinzidenz und Krebsmortalität der Gesellschaft der epidemiolo-gischen Krebsregister in Deutschland e.V. (GEKID). Geschätzte altersspezifiche Fallzahle für Deutschland. Hg. v. GIKID. Online verfügbar unter www.gekid.de, zuletzt geprüft am 22.12.2015.

Heim, M. (2008). Onkologische Rehabilitation: Wege zurück ins Leben. In: Hämatologie & Onkologie (1): 8–12.

Mehnert, A. & Koch, U. (2013). Predictors of employment among cancer survivors after medical rehabilitation--a prospective study. In: Scandinavian journal of work, environment & health 39 (1): 76–87. DOI: 10.5271/sjweh.3291.

Publikationen im Rahmen des Projektes
Leibbrand, B.; Exner, A.-K. & Kähnert, H. (2019). Return to work for Cancer Survivors. The module “Job perspective” for cancer rehabilitation. JSPRM: 35 (LW4-5).

Leibbrand, B., Exner, A. & Kähnert, H. (2018). Oncological rehabilitation and the aim: return to work. Development and evaluation of an MBOR module for rehabilitation named “Job per-spective”. J Int Soc Rehabil Med 2018; 1, Suppl S1.

Kähnert, H; Exner, A.K., Brand, S. & Leibbrand (2016). Entwicklung und Bewertung der be-ruflich-orientierten Intervention „Perspektive Job“ für die onkologische Rehabilitation. Re-habilitation 55: 150-157.

Kähnert, H., Exner A.-K. & Leibbrand B. (2016). Berufliche Rückkehr nach Abschluss einer onkologischen Rehabilitation. Welche Unterstützung ist aus Patientensicht erforderlich. DRV-Schriften Band 109: 54–55.

Kähnert, H.; Exner, A.-K.; Muckel, E. & Leibbrand, B. (2016). Return to work following a work-related oncological rehabilitation: The pilot study “Perspective Job.” Oncol Res Treat; 39 (suppl. 1): 37.

Kähnert, H., Exner A.-K., Brand M. & Leibbrand B. (2016). Berufsorientierte Intervention für onkologische Rehabilitanden (BIOR) [Abschlussbericht]. IFR, Norderney.

Kähnert H., Exner A.-K., Leibbrand B. (2015). Konzeption und Evaluation der beruflich orien-tierten Intervention Perspektive Job für onkologischen Rehabilitanden. DRV-Schriften Band 107: 54-55.

Leibbrand, B., Exner, A.-K. & Kähnert, H. (2015). "Perspective Job" - Development of a MBOR module for oncologic rehabilitation by an interdisciplinary team. Oncology Research and Treatment 38 (Suppl. 5): 173

Schlagwörter
Onkologie, Rehabilitation, MBOR, Nachsorge

Kontakt
Dr. Heike Kähnert, Alte Vlothoer Straße 1, 32105 Bad Salzuflen,
Tel.: 05222-186-3367, Fax: 05222-186-3250, E-Mail: kaehnert@ifr-norderney.de